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ß, je t'aime
Begehren, das unstillbare Verlangen etwas zu wollen, zu verschlingen – von der affektiven Reaktion bis zum reflexiven Verstehen typografischer Strukturen.
Interesse an visuell gestaltetem Text kann emotional begründet oder vernunftgeleitet sein. Die Zu- oder Abneigung gegenüber einem gestalteten Text hängt von Form, Inhalt und bei erster Konfrontation mit dem Medium insbesondere dem Inhalt bei Überschrift und gegebenenfalls Unterüberschrift ab. Zudem vom ästhetischen Ausdruck kompositorischer Aspekte der im ersten Moment erfassten visuellen Einheit. So wird ein Screen, eine Buchseite oder die Texteinheit einer App schnell als angenehm oder unangenehm empfunden, zeitlich noch bevor die Überschrift semantisch erfasst wird. Das bedeutet, die typografische Gestaltung führt auf affektiver Ebene zu einer Vorentscheidung. Bei vor dem Bewusstwerden des Inhalts stattfindenden Verarbeitungsprozessen spricht man in der Semiotik von den Kategorien der Erstheit und Zweitheit. Abhängig von Intention und Erfahrung der Lesenden wird die erste basal-visuelle Reaktion in kognitiven Prozessen bewertet und kann neu justiert werden. Zu solchen späteren Verarbeitungsprozessen zählen Zweitheit und Drittheit, ein Erkennen von Bedeutung und daran anschließend eine Bewertung. Die finale Reaktion vereinbart affektive, emotionale und vernunftgeleitete Wahrnehmungsprozesse und führt dazu, ob ein Text oder Layout gelesen wird – oder eben nicht. Die Wirkung von Sprache und Schrift hat Einfluss auf diese Reaktion. Als Leserin oder Leser haben Sie sich aufgrund einer Abwägung von visueller Wirkung von Schrift und Layout mit ausgewählten Schlüsselbegriffen, die einen bestimmten Inhalt versprechen, den Zugang zu vorliegendem Text erschlossen. Dabei spielten individuelles Interesse, Vorwissen und Erfahrungen eine Rolle.
Sprache und Schrift
[1. Inwiefern stehen Sprache und Schrift miteinander in Verbindung?]
Die Wirkung von Schrift und Sprache ist immer eine Wechselwirkung. Sprachlicher Ausdruck kann zu einer bestimmten Schriftwahl führen, die gut gewählte Schrift unterstützt den sprachlichen Ausdruck. Betrachten wir zwei formal unterschiedliche Schriftarten, die weit verbreitete Groteskschrift Helvetica regular und die formal komplexere Schrift Rotis semi serif, die mit den Serifen-Ansätzen mehr Einzelelemente aufweist und sich zudem durch größere Unterschiede in der Linienstärke charakterisiert. In vielen Fällen ist stilistische Kongruenz von Sprache und Schrift Kern erfolgreicher Kommunikation. Beziehen wir die beiden Schriften auf einen komplexen wissenschaftlichen Text, der sich aus zahlreichen Fachbegriffen und langen Schachtelsätzen bildet, liegt es nahe, einen solchen Text in größtmöglicher Klarheit ins Layout zu setzen, in der Tendenz mit gut erkennbaren Buchstabenformen, die den Lesenden geläufig sind und Konventionen wissenschaftlicher Layouts aus dem betreffenden Fachbereich entsprechen. Daneben stellen wir einen niederkomplexen Unterhaltungstext zu einem alltäglichen Thema, der sich aus kürzeren und eher pointiert formulierten einfachen Begriffen und Sätzen bildet. Hier würde eine verspielte Schrift die Rezeption des Inhaltes nicht negativ beeinflussen und eher den ausgeprägten emotionalisierenden Charakter des Inhaltes unterstreichen, solange der Figur-Grund-Kontrast gewährleistet ist und der grundlegende konventionale und funktionale typografische Rahmen eigehalten wird.
Emotionen bei Bild und Schrift
[2. Welches visuelle Zeichen (Bild oder Schrift) kann Ihrer Meinung nach mehr Emotionen wecken? Warum?]
Ob Bild oder Schrift mehr Emotion weckt, hängt stark von Definitionen und der diskursiven Eingrenzung der Begriffe Bild und Schrift ab. Ich wähle einen Diskurskorridor, der ein einzelnes Schriftzeichen zum Bild erhebt. Das schützt vor der augenscheinlichen Erkenntnis, Bilder als Abbilder führen generell früher und damit schneller zu emotionalen Reaktionen als abstrakte Schriftzeichen, die zu einem ikonografischen Ganzen zusammengestellt und als ganzes Layout im Sinne eines makrotypografischen Superzeichens gelesen werden. Einzelne Schriftzeichen werden im Lesefluss nicht isoliert wahrgenommen, schaffen wir also eine artifizielle Situation, indem ein bestimmtes Zeichen ausgewählt und unter dem Vorzeichen einer erotischen Konnotation zeichentheoretisch beschrieben wird. Ein einzelnes Schriftzeichen wird in der Regel nur dann als Form betrachtet, wenn es ohne unmittelbaren Kontext wie eine Eigenschaft als Teil eines Wortes oder Satzes abgebildet ist. Im umgekehrter Schlussfolgerung bilden sehr viele einzelne Schriftzeichen Superzeichen wie ganze Textkolumnen, die wiederum als Grauflächen das ästhetische Ganze eines Layouts beeinflussen. So wird Schrift zum Bild, wenn einerseits Einzelzeichen ganz oder im Ausschnitt und andererseits sehr viele Zeichen als Textspalte oder Makroform rezipiert werden. Schließlich führen die drei Stufen der Wahrnehmung Sehen, Erkennen und Verstehen, die mit den semiotischen Kategorien Erstheit, Zweitheit und Drittheit in Verbindung stehen, zu einer zwischen Affekt und Kognition ausgehandelten, mehr oder weniger emotionalen Reaktion.
Emotional-affektiver Zugang zum Inhalt
[3. Kann eine emotional-affektive Gestaltung von Schrift den Zugang zum Inhalt erleichtern?]
Eine emotional-affektive Gestaltung von Schrift kann den Zugang zum Inhalt unterstützen. In vorliegendem Text aus der Semiologie heraus argumentiert, über Eros zur affektiven Gestaltung.
Sinnliche Schrift
[4. Wie sieht emotionale oder sinnliche Schrift für Sie aus?]
Es macht für mich mehr Sinn, danach zu fragen, wie Schrift und typografische Stilmittel allgemein genutzt werden können, um emotionale und sinnliche Wirkungen zu erzeugen und damit den Zugang zu Textinhalten zu erleichtern. Einzelne ausschließlich typografisch gestaltete Screens oder Buchseiten sind selten sexy, nicht ohne semantische Aufladung oder Kontexte. Die Intention der Lesenden, das Vorwissen zum ausgeführten Thema und der Anspruch an visuelle Konventionen und Qualitäten wirken mit affektiven Kräften zusammen.
Erotische Buchstaben(-formen)
[5. Haben Sie im Hinblick auf vereinzelte Buchstaben(-formen) oder Schriften bestimmten Konnotationen? Wenn ja, welche?]
Sinnlichkeit und Eros folgend, können einige Buchstabenformen konnotiert werden: Das scharfe ß mit weichen Rundungen und ausgeprägtem Bauch wird zum Eros der Schwangerschaft, das k zeigt im Aufstrich eine Erektion, das große B formt wohlproportionierte Brüste, das J die Silhouette eines schlanken Jünglings, I und l den Penis, i ejakuliert, o formt den staunenden Mund, oral und v führt über die Form des weiblichen Unterleibs zur Vagina.
Semiotik im Studium
[6. Warum ist es für einen Studenten des Kommunikationsdesigns wichtig, neben der ästhetischen Lehre, einen Einblick in die Semiotik der Gestaltung zu bekommen?]
Die Auseinandersetzung mit Semiologie und weiteren Bezugswissenschaften halte ich für ausschlaggebend für ein umfassendes Verständnis von Design. Vorliegender Text vermittelt eine Idee davon, von Begehren bis Sex. Dabei ist hier nur der engere praxeologische Kontext rekurriert. Aus ihrem Ursprung der Linguistik heraus bietet Semiologie Erklärungsmodelle und Ansätze für Diskurse, die weit über Typografie und visuelle Gestaltung hinaus gehen. So können anhand der semiotischen Triade Zeichen, Objekt und Konzept nicht nur typografische Strukturen und Bilder, vielmehr Körpersprache, Mimik und Gestik diskutiert und Interpretationsweisen abgeleitet werden. Mimik kommuniziert nicht nur sehr schnell, oft werden sehr viel mehr Aussagen vermittelt als durch das dazu gesprochene Wort. Reaktionen auf Grundlage von Mimik spielen sich in einem frühen Stadium der Rezeption ab. Solche Reaktionen können der Signaletik zugeordnet und auf typografische Elemente und Strukturen bezogen werden, die in Mikro- und Makrotypografie affektive Reaktionen auslösen – flirten durch Typografie. Bei Kommunikation mit Schrift, visueller und zwischenmenschlicher Kommunikation laufen vergleichbare Prozesse ab. Infolgedessen können semiologische Methoden der Analyse angewandt und anhand der Analyse-Ergebnisse Strategien abgeleitet werden, visuell-kommunikative Prozesse auf verschiedenste Weisen im Sinne eines intendierten Kommunikationszieles zu steuern und zu beeinflussen.
Zu- oder Abneigung gegenüber etwas oder jemandem hängt von Wahrnehmungsprozessen ab, die affektive Reaktionen, Intention und Erfahrung verbinden. Immer ist Eros ein Faktor, Semiologie und in manchen Fällen Typografie. Die Semiotik bietet im Zusammendenken mit Erfahrungen und Erkenntnissen aus der ästhetischen Lehre, soziologischen Aspekten aus Systemtheorie und Existenzweisen Ansätze für visuelle Diskurse. Diese sind Grundlage für die wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit visuellen Design- und Medienlösungen. Zeichen werden gelesen, interpretiert und die daraus gewonnenen Erkenntnisse für die eigene Kommunikation genutzt. Semiotik stellt aus einer Philosophie des Pragmatismus heraus gemeinsam mit Soziologie, Wahrnehmungstheorie und Philosophie Methoden zu Verfügung, Kommunikation, Design und damit Typografie zu analysieren und zu beschreiben.
Semi-er-otik stellt als Teil der pragmatischen Semiotik sowohl Methoden zur Verfügung zur Analyse von Typografie, als auch von zwischenmenschlichen Beziehungen.
[Grund genug für Studierende, sich mit Semiotik zu beschäftigen?]
Frank Barth | Februar 2018
Auszüge in:
Let's talk about text (Interviewbeiträge). In: gum No 13. Magazin für konzeptionelles Gestalten. Spezial Typografie. FH Bielefeld, Institut für Buchgestaltung, 2019, 79-90.